Ein Tisch, zwei Stühle und ein Riesenrad
ACHEMA 2021 — digital
960
15.000
ACHEMA 2018 — live
3.737
145.000
Digitale Flops
Bei der Hannover Messe Digital gab es nach Angaben der Deutschen Messe nur 90.000 Teilnehmende. Bei der ACHEMA Pulse, die im Juni 2021 stattfand, nutzten rund 960 ausstellende Unternehmen aus 38 Ländern die interaktive Plattform, um mit insgesamt 15.000 Teilnehmenden in Kontakt zu kommen. Bei der letzten Liveveranstaltung der Messe im Jahr 2018 trafen hingegen 3.737 Aussteller auf 145.000 Besucherinnen und Besucher. Auf der Website der ISH Digital im März 2021 tummelten sich zwar laut Veranstalter 69.000 Besucher, doch beim letzten Live-Event waren rund 190.000 Besucher präsent gewesen. Die wichtige Zielgruppe Handwerk ließ sich online überhaupt nicht begeistern. Das sind ernüchternde Zahlen und sie lassen den Schluss zu, dass digitale Lösungen kein Ersatz für eine reale Messe sein können. Große Markenhersteller holten ihre Kunden digital mit aufwändig gestalteten virtuellen Showrooms ab. Doch Aussteller erzielen mit digitalen Messen im Schnitt nur ein Viertel des Nutzens einer Messe vor Ort, sagt der Verband der deutschen Messewirtschaft, AUMA. Auch diverse Umfragen des Fachverbandes Armaturen haben gezeigt, dass die Aussteller die kurzfristig aus dem Boden gestampften, digitalen Formate bestenfalls als Zwischenlösung empfunden haben.
War der Ausfall der Messen ein Verlust?
Doch war der Ausfall der Messen für die Unternehmen in der Coronaphase wirklich ein Verlust? Schon vor Corona hatten viele Leitmessen der Armaturenindustrie mit rückläufigen Besucherzahlen zu kämpfen. Unternehmen fragten sich immer häufiger, welchen Stellenwert ihre Messepräsenz im digitalen Zeitalter noch hat. Produktinformationen sind heute über das Internet detaillierter und vollständiger zu recherchieren als jemals zuvor. Rein national ausgerichtete Rahmenprogramme mit überfrachteten technischen Vortragsreihen verknüpft mit emotionsfreien Veranstaltungen ohne Prominenz stießen auf wenig Gegenliebe der Besucher. Die Digitalisierung beschränkte sich vor der Pandemie lediglich auf das Ausstellerverzeichnis, die Anmeldeprozesse und die Besuchsplanung. Der wachsende Wettbewerb mit anderen internationalen Messen wurde unterschätzt.
Gemäß einer AUMA-Umfrage vermissten zur Corona-Zeit aber immerhin 60 Prozent deutscher Unternehmen die Chance zur Präsentation neuer Produkte und sogar 84 Prozent das Netzwerken auf der Messe. Zu einem anderen Schluss kam jedoch eine Umfrage der Meinungsforscher Civey: Für 56 Prozent der Teilnehmenden sei der Wegfall von Leitmessen nach der Pandemie gar kein oder nur ein geringerer Verlust. Angeblich könnten sich gerade jüngere Generationen vorstellen, eine Präsenzmesse durch alternative Angebote zu kompensieren.
Live-Erlebnis: Der Wunsch nach realen Begegnungen ist bei Jung und Alt vorhanden.
[Foto: Messe Frankfurt 2018 ©ACHEMA]
Produkte zum Anfassen: Das gibt es trotz Virtual Reality nur auf dem Messestand.
[Foto: Messe Frankfurt GmbH | Pietro Sutera]
Die Wahrheit liegt wohl dazwischen
Der Wunsch nach realen Begegenungen ist bei Jung und Alt vorhanden. Die Events von morgen müssen aber immer mehr neue Möglichkeiten der Verlängerung von Begegnungen anbieten. Live-Erlebnis und digitale Erfahrung dürfen dabei kein Widerspruch sein. Die berühmte „digitale Übersättigung“ und der mangelhafte Erfolg vieler Online-Events führen dazu, dass es aktuell einen großen Nachholbedarf an persönlichen Treffen gibt. Endlich sind Messen wieder ohne größere Einschränkungen möglich. Reale Produkte können wieder in die Hand genommen werden. Viele Vertriebler freuen sich darauf, wieder Aug in Aug mit dem Verhandlungspartner an einem Tisch sitzen zu können.
Kommt jetzt der große Neustart?
Die Messelandschaft nach der Pandemie ist jedoch eine andere. Ziel muss es sein, Digitales mit Live-Events zu kombinieren und so das beste aus zwei Welten zu vereinen. Wenn es gelingt, eine stärkere Vernetzung der Aussteller und Besucher auf digitalem Wege zu realisieren, ist bereits ein wichtiger Schritt unternommen. Idealerweise an 365 Tagen im Jahr. Aber es gibt noch viel mehr zu tun. Emotionen und der persönliche Kontakt zum „Menschen“ – also zum Messebesucher – müssen in den Vordergrund rücken.
Digitale Übersättigung — Home-Office-Regelung und Kontaktbeschränkungen führten in der Pandemie zu höheren Bildschirmzeiten für alle. So wird das digitale Publikum kritischer und wägt ab, ob sich „noch ein digitaler Kanal“ denn auch lohnt.
FOMO — „fear of missing out“ ist ein geflügelter Satz des Informationszeitalters geworden. Das Überangebot provoziert die Sorge, etwas zu verpassen.
Ein Tisch, zwei Stühle und ein Riesenrad
Eine simple Rückkehr zu „Vor Corona“-Messeangeboten ist keine Lösung. Mit einem Tisch und zwei Stühlen ist es also nicht getan. Vielmehr muss schon am großen Rad gedreht werden, damit Besucher aus aller Welt wieder in die Hallen strömen. Das heißt, seitens der etablierten Messegesellschaften sind Umdenken, Anpassungsbereitschaft und Kreativität gefragt. Neue Lösungen müssen diskutiert und ausprobiert werden. Möglicherweise muss auch das Preis-/Leistungsverhältnis der Messen hinterfragt werden.
Der Fachverband Armaturen ist überzeugt: Weltleitmessen brauchen Öffentlichkeit, um ihre führende Rolle sichtbar zu machen. Dazu sollte auch ein Bekenntnis der jeweiligen Stadt zu der Veranstaltung im öffentlichen Raum gehören. Benötigt wird zukünftig ein stärker eventorientiertes, analoges Angebot mit digitalen Begleitmaßnahmen als „Dauerrauschen“ zwischen den realen Terminen.
Die Messe als „place to be”
Ein attraktives, aufmerksamkeitsstarkes Rahmenprogramm sorgt dafür, dass die Weltleitmesse wieder zu einem Event avanciert, das keiner verpassen will, getreu dem Motto „Fear of Missing Out“. Ein internationales Kultur-, Musik und Unterhaltungsprogramm trifft dabei auf ein vielfältiges internationales, kulinarisches Angebot. Gekrönt wird die Messe von morgen mit digitalen Features, die die Besucher zu Hause abholen. Denkbar wären digitale Live-Talk-Runden mit CEOs der weltweit führenden Marken, um den Anspruch einer Weltleitmesse zu untermauern. Vieles ist vorstellbar, vieles ist machbar. So wird die Messe der Zukunft Realität und erfüllt die Aufgabe, die sie hat: Menschen zum Netzwerken zusammenzubringen.